Der Hl. Sebastian als Schutzpatron der Schwulen

Wo christliche Glaubenstradition und homosexuelle Kultur aufeinander treffen, da ist in der Regel der Hl. Sebastian nicht weit - und dies, obwohl die klassische Ikonographie der schwulen Gemeinde ganze Heerscharen potentieller Schutzpatrone anbietet. Zu denken wäre etwa an die Adonis-Figur des Jusepe de Ribera im Palazzo Corsini zu Rom oder an Caravaggios Darstellung des Hl. Matthäus in der Kirche San Luigi dei Francesi, gleichfalls in Rom.


Bildhafte Konkurrenz hätte der Sebastian-Gestalt aber auch das biblische Freundespaar David und Jonathan oder den Zisterzienser-Abt Aelred von Rievaulx ("De spirituali amicitia", 1164 oder später) zuwachsen. Und doch: "Kein Rivale hinderte den Hl. Sebastian, die Verehrung des männlichen Körpers für sich zu beanspruchen."

Unisono haben sich "die" Schwulen den altchristlichen Märtyrer Sebastian zum Schutzpatron erkoren. Dass es soweit kommen konnte, war nicht unbedingt von Anfang an zu erwarten. (Früh-)Mittelalterliche Bildnisse zeigen den Heiligen als zumeist betagten, kettengerüsteten Soldaten. Erst im 15. Jahrhundert setzte sich in der Kunst - zunächst in Italien, dann auch anderen Ortes - der Typus des schönen Jünglings durch. Zugleich emanzipierten sich die Maler hinsichtlich ihres Sujets von der bildhaft-narrativen Darstellung der Folter; allein die attributiven Pfeile, die den Heiligen als Nothelfer gegen die Pest ausweisen, verblieben ihm.

Nun auch verlor Sebastian endgültig seine Kleider. Damit war den Künstlern endlich die Gelegenheit gegeben, den nackten Männerkörper jenseits des thematisch fixen Gehalts der Legende als Inbegriff jugendlicher Schönheit darzustellen.

Fast schon in skandalöser Weise weit über die so entstandenen Konventionen hinaus führt ein Kupferstich des Venezianers Jacopo de' Barbari (* um 1445 in Venedig [?], + um 1515 in Brüssel [?]), insofern hier die einzig gebliebene Legitimation zur Präsentation des nackten Jünglings, nämlich die auf das Martyrium verweisenden Pfeile, ausgeblendet sind. Mit seinem auf diese Weise innovativen Bild treibt der Künstler den erotischen Aspekt, der dem Sebastian-Motiv seit der Renaissance unterlegt ist, in eine bis dahin nicht bekannte Dimension vor: Der gefesselte Heilige bietet sich dem Betrachter in unverletzter Schönheit dar "und gleicht sich so den Darstellungen der in Liebesbanden Schmachtenden an. Wehrlos, wie dem Betrachter, ist er seiner eigenen erotischen Spannung ausgeliefert: Sein erigiertes Glied hält das Lendentuch, das im nächsten Augenblick herabzugleiten verspricht. Die Blicke des Zuschauers aber werden zu "Pfeilen der Liebe" (Francesco di Barbarino), die den Leib Sebastians treffen. - Die Grenze zur Pornographie ist nun nicht mehr weit. (...)

Das Bildnis des Hl. Sebastian beschwört (...) noch lange vor jedweder Benennung im wissenschaftlichen Begriff die schwule Phantasie in ihrer ganzen Bandbreite - von der Sehnsucht nach körperlicher Nähe, erotischer Schönheit, sexuell erfüllter Liebe und intimen Beziehungen über die Angst vor und dem Kampf gegen AIDS bis hin zu Befriedigung sado-masochistischer Lust.

(Auszug aus dem Artikel "Ja, mein Erbe gefällt mir gut" von Ulrich Engel, in Zeitschrift: Wort und Antwort, 2/98, 39. Jahrgang, Homosexualität, S. 78- 81)

Ein Link mit ca. 6000 Einträgen: "The Iconography of Saint Sebastian"

 

Sebastian, Kirche Rebstein (SG)