Ingo, kath. Priester, 45 Jahre
Ingo (Pseudonym) ist 45 Jahre alt, katholischer Priester einer Deutschschweizer Diözese und seit gut 10 Jahren Pfarrer in einem typischen Agglomerationsgebiet. Seit über drei Jahren ist er Mitglied bei Adamim, dem Verein schwuler Seelsorger der Schweiz und seit gut zwei Jahren Vorstandsmitglied.
Angesprochen auf seine Geschichte sagt er, dass er sich "das alles" so sicher auch nicht gewünscht habe, dass aber vieles zu seinem physischen und psychischen Wohl einfach geschehen sei. Er sei eben ein typisch klerikaler Spätzünder: Ohne Mühe legte er mit 25 Jahren nach eifrig-rasant verlaufenen Gymnasiums- und Studienjahren und einem Abschluss in Theologie mit einer Arbeit über Theologie des Alten Testaments vor der Diakonenweihe das Zölibatsversprechen ab in der sicheren Überzeugung, nie heiraten zu wollen und zu müssen. Die Spiritualität, die ihm dazu in seiner Luzerner Studienzeit vermittelt worden sei, sei absolut fördernd für diesen Entscheid gewesen. "Wir waren wirklich überzeugt, dass es zur echten Nachfolge Jesu gehöre, sich selber zu verleugnen, alles einzusetzen für seine Botschaft." Viele seiner damalig enthusiastischen Kollegen, die sich weihen liessen, sind inzwischen ausgestiegen, verheiratet oder auch Mitglied bei "Adamim".
Voller Elan stürzte er sich in die Jugendarbeit und den Oberstufen-Religionsunterricht einer grossen Innenstadtpfarrei mit hohem Ausländeranteil und dementsprechenden sozialen Problemen. Seine Wohnung sei während Jahren ein besserer Jugendtreffpunkt, die Sommerlager seiner Pfadfinder wohltuende Höhepunkte gewesen. Dass ihm in dieser Zeit seine Boys nicht nur emotional, sondern auch ästhetisch gefielen, war ihm lange intellektuell nicht bewusst. Manchmal aber habe er nach so einem Tag scheinbar sinnlos ins Kissen geheult im traurigen Bewusstsein, eben "niemanden" zu haben.
Der Wechsel ins Pfarramt war verbunden mit einer massiven psychosomatischen Krise, mit plötzlichen Weltuntergangs- und Suizidgedanken. Noch immer aber gelang es ihm, seine eindeutig schwule Seite (inzwischen belegt mit einer kleinen, wohl versteckten Videosammlung) rational zu verdrängen. Erst wie ihm sein Hausarzt und die kirchlichen Vorgesetzten zur Therapie rieten, brach der Damm. "Ich glaube, ich bin schwul" - so sein Satz im zweiten Therapiegespräch. Damit war der Bann gebrochen, eine radikale Veränderung setze ein, in deren Verlauf Ingo über 25 Kilo Körpergewicht, sein grenzenloses Vertrauen in Mutter Kirche und auch seine Unschuld verlor. Er hat heute einen gleichaltrigen Freund, mit dem ihn vieles in der Lebensgeschichte und ein ebenfalls anspruchsvoller Beruf verbindet. Die knappe Freizeit verbringen sie möglichst gemeinsam, teilen ihre Freude an Oper und Musik, an Wanderungen im Süden und an manchem mehr.
Der Satz des Pierre Besuchow am Ende von "Krieg und Frieden" ist ihm sehr wichtig: "Hätte ich die Wahl, all dieses Unangenehme nicht erlebt zu haben oder es nochmals durchleben zu müssen, ich würde mich für das zweite entscheiden." Die Institution Kirche hingegen ist ihm mehr als verdächtig geworden. Er misstraut ihr, dass sie wider besseres Wissen auch in Zukunft junge enthusiastische Menschen geistig missbrauchen, Missstände unter die Decke wischen und den hehren Anschein, dass das Pflichtzölibat ein hoher Wert sei, wahren wird. In der Kirche bleibt er, weil er seine Arbeit liebt, den Religionsunterricht bei jungen Menschen zumal, denen er zu mehr Ehrlichkeit im Blick auf sich selber und die Gesellschaft verhelfen will. Die Botschaft des geschichtlichen Rabbi aus Nazareth scheint ihm absolut wesentlich und hilfreich zur Selbstfindung des Menschen, zum Finden von "Leben in Fülle" zu sein. Was die Kirche hingegen daraus gemacht habe, verhindere weitgehend, solche Fülle zu finden. "Würde mich die Kirche vor die Entscheidung zwischen meinem Beruf und meinem Freund stellen, ich würde sofort aus ihr austreten."
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