„Die Bibel ist nicht Gottes Wort“

Interview mit Kirchenpräsident Peter Steinacker über die Bedeutung der Heiligen Schrift für die evangelische Kirche.

Peter Steinacker (61) ist seit 1993 Kirchenpräsident der Evangelischen Kirchen in Hessen und Nassau. 1981 habilitierte sich der gebürtige Frankfurter in Systematischer Theologie, 1986 wurde er Honorarprofessor. 1985 bis 1993 war er als Pfarrer in Wuppertal tätig.


Die Frage der Homosexualität wird immer mehr zu einem Streitpunkt, zwischen den Kirchen Afrikas auf der einen und den Kirchen Europas und Amerikas auf der anderen Seite, und sie bewegt Theologen und Nichttheologen. Letztlich geht es dabei um das Bibelverständnis, darum, ob man die historisch-kritische Methode praktiziert oder biblizistisch argumentiert, nach dem Motto: „Da steht es geschrieben, und darum gilt es.“

 


Peter Steinacker:


Ich verfahre in diesen Fragen zweigleisig. Auf der einen Seite hilft die historisch-kritische Methode zu erkennen, dass die Stellen, in denen es um Gleichgeschlechtlichkeit geht, kontextgebunden sind.


Hier wird homosexuelle Praxis immer als Ausdruck und Folge eines falschen Gottesverständnisses verstanden. Wenn aber Homosexuelle bekennen, dass Jesus Christus ihr einziger Trost im Leben und im Sterben ist, kann man ihnen doch kein falsches Gottesverständnis vorwerfen.


Die historisch-kritische Erforschung lässt uns auch erkennen, dass die Verfasser der Bibel über Sexualität anders dachten als wir es heute tun. So war Sexualität im Alten Testament fast nur mit der Fortpflanzung verbunden, und die Texte bringen die Sorge um den Fortbestand des Volkes Israel oder der Familie zum Ausdruck. Wir geben heute der Sexualität einen Wert an sich, das ergibt sich aus dem biblischen Menschenbild.


Aber die historisch-kritischen Erkenntnisse überzeugen natürlich nicht die Christen und Christinnen, die sich mit Homosexuellen schwer tun.


Mit ihnen lese ich die Bibel, zum Beispiel 1. Korinther 11. Da spricht der Apostel Paulus den Frauen ab, dass sie wirkliche Ebenbilder Gottes sind. Und dann frage ich Männer, die mit mir die Bibel lesen: Glauben Sie das auch von Ihrer Frau? Und wenn einer mit Nein antwortet, frage ich: Warum nicht? Da wird dann deutlich: Uns Christen ist die Bibel wichtig.
Wir deuten mit ihrer Hilfe unser Leben. Aber bei konkreten aktuellen Problemen kommen wir oft zu anderen Lösungen als Paulus oder die Verfasser anderer biblischer Schriften. Die Bibel beantwortet zum Beispiel auch nicht die Frage, ob ich mir eine Aktie kaufen darf oder nicht. Doch das ist eine Entscheidung von hohem ethischem Rang. Ich muss also mit der Bibel im Rücken nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden. Ich muss mich dabei letztlich von der Liebe leiten lassen.


So hat es Paulus ja selber vorgemacht. In Römer 13 hebt er nicht auf die einzelnen Gebote des jüdischen Gesetzes ab, die einzuhalten wären, sondern erklärt: „Die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes.“

Aus: „Zeitzeichen, evang. Kommentare zu Religion und Gesellschaft“, November 2005.